Ich bin christlich und durch meinen kulturellen, asiatischen Hintergrund eher streng aufgewachsen. Sonntage waren für die Kirche reserviert, während meine Freunde ausgerechnet sonntags die coolsten Ausflüge machten. Doch ich verbrachte diese Tage meiner Mutter zuliebe und auch weil ich ohnehin keine andere Wahl hatte, in der Church. Bis heute ist sie Lobpreis-Leiterin einer asiatischen Kirche. Damals stieg ich selbst irgendwann in den Lobpreis ein und stand als Jugendliche im Alter zwischen 15 – 18 Jahren als Sängerin auf der Bühne. Ich erinnere mich wie ich damals einfach mal nach Gott gefragt habe. – Ich fragte „Hey Gott, wenn es dich wirklich gibt, dann gib mir ein übernatürliches Zeichen.“ Es geschah erstmal nichts und mein Glaube blieb klein. Von da an dachte ich, der Glaube sei etwas, was Menschen sich schönreden, um sich an irgendetwas festhalten zu können.
Meine Mutter hatte uns so erzogen, dass sie uns erst einen festen Freund erlauben wollte, wenn wir 18 Jahre alt und somit erwachsen wären… Kurz vor meinem 18. Geburtstag, lernte ich auch schon jemanden kennen und ich gestand meiner Mom, dass es tatsächlich jemanden gab, den ich ihr gerne vorstellen wollte. Ich denke sie hatte nicht erwartet, dass es so schnell gehen würde, denn plötzlich änderte sie ihre Regel. Danach sagte sie nämlich, erst wenn ich ausgezogen wäre, dürfte ich eine Beziehung eingehen. Ich war furchtbar enttäuscht und schon in kürzester Zeit sehr verliebt. Diese Gefühle, gepaart mit der ständigen Kontrolle und für mein Empfinden, ohnehin schon wenig Freiheiten, die ich bis dahin hatte, brachen aus und ich begann zu rebellieren. Ich war nicht einverstanden mit ihrer neuen Regel. Ich wollte mir nichts mehr sagen lassen und zog überstürzt aus. – Das hat ihr rückblickend mit Sicherheit sehr weh getan, ich weiß es nicht genau, denn selbst wenn, hat sie es mir bis heute nie vorgeworfen.
Ich dachte ich wäre nun endlich frei und könnte endlich alles tun, was ich vorher nie durfte. Dinge nachholen und mein Leben nun endlich leben. Doch ab diesem Teil der Geschichte, verstand ich erst wirklich, was echtes Leid war.
Nachdem ich ausgezogen war, zerbrach die Beziehung zu meiner Familie. Ich wurde aus dem Lobpreis-Team der Gemeinde meiner Mutter geworfen. Ich sei kein Vorbild mehr gewesen, da ich mich für meinen damaligen Freund entschieden hatte.
Die Beziehung dauerte vier Jahre. Das erste halbe Jahr war schön – der Rest war einfach nur toxisch und schlimm. Ich wollte einfach nicht akzeptieren, dass alles was ich für ihn geopfert hatte, umsonst war; meine Familie, mein Zuhause, meine Prinzipien, selbst meine Würde und am aller schlimmsten, meine Reinheit. – Ich konnte nicht loslassen, weil ich emotional zu abhängig war. Ich hatte mein ganzes Herz an ihn gehängt.
Ich wusste die ganze Zeit, dass er mich betrog. Ich wusste, er tat Dinge denen ich allein moralisch vorher nie zugestimmt hätte und das schlimmste war, dass ich all diese Dinge zum Schluss mit ihm tat, aus Angst ihn zu verlieren. – Das, und weil ich dachte, ohne ihn hätte ich niemanden mehr und ich würde allein zurückbleiben.
Sein gesamter Freundeskreis bestand damals aus Dealern oder eben Konsumenten, weil er selbst einer war. Ich hatte entweder die Wahl daran zu zerbrechen, dass er sich lieber für seinen Lifestyle oder dafür, zu kiffen, entscheiden würde, oder, ich stellte mich nicht so an und machte es mit ihm. – So fing also auch ich an, mit ihm zu rauchen und nach diesem Einstieg, hatte ich irgendwann auch überhaupt keine Hemmungen mehr, noch mehr Dinge und auch synthetisches auszuprobieren.
Erst nach viel zu langer Zeit und schon viel zu tiefen Wunden, trennten wir uns.
Seine Freunde waren mir zwischenzeitlich loyaler als ihm geworden und blieben nach der Trennung an meiner Seite. So hatte nun ich diesen Freundeskreis, der aus Dealern bestand und ich war mittendrin.
Zu dem Zeitpunkt, konsumierte ich bereits selbst und hatte jegliches Gefühl für gesunde Entscheidungen verloren. Ich redete mir ein, dass es okay ist, solange ich mein Leben im Griff habe und normal arbeiten gehen konnte. Ich war damals echt leichtsinnig und kann irgendwie nicht glauben das ich tatsächlich die ganzen Pakete, mit dem Stoff meiner Jungs, aus Berlin an MEINE Adresse schicken lassen hab und das nie aufgeflogen ist!
Mit zu viel Geld, machten wir die coolsten Ausflüge und verbrachten jede freie Minute zusammen, meistens bei mir, in meiner alten Wohnung. Ich war das einzige Mädchen unter einer handvoll Jungs und somit irgendwie die „Mami“ von allen. Sie gaben mir eine Rolle, in der ich mich wohl fühlte und die mich zumindest eine Zeit lang ablenkte von dem Schmerz, den ich versuchte zu verdrängen.
Trotz der vielen Höhenflüge die wir in dieser Freundschaft hatten, sah ich bei jedem einzelnen von ihnen, wie leer und tot sie innerlich waren und wie unglücklich sie in Wahrheit sind. – So wie auch ich.
Ich war umgeben von vier Jungs die jeden Tag bei mir waren und dennoch fühlte ich mich so einsam wie noch nie. Es ging irgendwie weiter bis es irgendwann eben nicht mehr weiter ging… Innerlich zerriss es mich und ich wusste längst, wie falsch das Leben, das ich gewählt hatte war. Ich verdrängte es, bis ich als Reaktion darauf anfing, Panikattacken zu bekommen. Erst vereinzelt, dann immer häufiger und leider dann auch auf der Arbeit, sodass meine damalige Chefin mir ans Herz legte, mir Hilfe zu suchen.
Ich war lange krankgeschrieben und traute mich kaum vor die Haustür. Zu groß war die Angst davor, Panikattacken vor Menschen zu haben. Ich hatte keinen Appetit mehr und verlor extrem viel Gewicht, innerhalb kürzester Zeit. Meine Familie wusste nichts davon, meine Freunde konnten mir nicht helfen. Schließlich verlor ich dann auch noch meine Lebensfreude, bis zu dem Punkt, an dem ich wirklich einfach nicht mehr leben wollte. Alleine das Atmen tat nur noch weh. – Niemals hätte ich mir wirklich etwas angetan, dafür liebte ich meine Familie zu sehr und ich hätte ihnen sowas niemals antun können. Ich war zwar nicht suizidgefährdet, doch der Kummer war so groß, dass das Leben eine einzige Qual wurde und ich lieber einfach sterben wollte, weil diese Gedanken in meinem Kopf monatelang auf Dauerschleife liefen.
Ich suchte mir Hilfe. Es war unglaublich schwer einen Therapeuten zu finden, ich hatte eine lange Liste mit Therapeuten von meinem Hausarzt bekommen. Keiner hatte noch Kapazität für mich, oder ging überhaupt erst ans Telefon, als ich anrief.
Ich war verzweifelt, eine letzte Nummer hatte ich noch auf der Liste und ich erinnere mich, wie ich nach langem innerlich zu Gott betete; Ich brauche Hilfe, ich schaff das sonst nicht.
Die letzte Nummer. Es klingelte zwei Mal und sofort ging jemand ans Telefon und gab mir direkt für den nächsten Tag einen Termin! Ein Wunder, das ich als solches noch nicht einmal erkannte.
Ich ging hin – skeptisch. Der erste Termin war auch nichts Weltbewegendes für mich, aber was danach geschah, bewegte meine Welt.
Noch in der gleichen Woche, bekam ich eine Nachricht von einem ehemaligen Freund, der so wie ich, christlich aufgewachsen ist, später aber ziemlich zeitgleich mit mir abstürzte, bis wir uns aus den Augen verloren. In seiner Nachricht fragte er mich, ob ich Lust hätte in seine Gemeinde zu kommen und ich war sehr überrascht.
Eigentlich war ich durch mit der Kirche, der Rausschmiss aus dem Lobpreis, hatte mich damals besonders verletzt und mit Kirche wollte ich nichts mehr zu tun haben. Ich wollte nicht gehen und trotzdem schubste mich etwas an. Ich hatte doch ohnehin nichts mehr zu verlieren, also ging ich.
Ich sagte dem Freund der mich eingeladen hatte nicht, dass ich kommen würde, aber ich war da. Ganz hinten in die letzte Reihe hatte ich mich gesetzt, als der Gottesdienst anfing und die gesamte Predigt des Mannes, der vorne auf der Bühne sprach, für mich war. Alles was er da sagte war auf mich zugeschnitten, als hätte er mein Leben observiert und genau gewusst, dass ich heute kommen würde. Die Dinge, die er sagte, trafen mich so schwer, dass ich einfach nicht aufhören konnte zu weinen. Zu schwer war die Schuld, die ich ganz bewusst all die Jahre getragen hatte, obwohl ich doch immer wusste, was richtig und was falsch war. Nach der Predigt kam die Worship-Band auf die Bühne, um ein Lied zu spielen. Der Frontsänger der Band sagte, er hätte den Eindruck, dass hier eine Person ist, die ihre letzte Chance hier in der Kirche sucht und wer auch immer diese Person wäre, sollte Gott alles ehrlich abgeben und ihm sagen, was sie belastet. – Ich schämte mich so, doch ich tat das in meinen Gedanken. “GOTT, WENN ES DICH WIRKLICH GIBT, DANN HILF MIR JETZT!!! ICH SCHAFFE DAS HIER ALLES NICHT MEHR ALLEIN UND ES TUT MIR LEID, DASS ICH VON DIR WEGGELAUFEN BIN!“
Was dann geschah, ist eigentlich nicht in Worte zu fassen, aber ich werde es versuchen…
Ich war alleine hinten, in der letzten Reihe. Neben mir war niemand, aber ich wurde umarmt. – Ich fühlte diese Wärme und den physischen Druck, wie eine Umarmung, und gleichzeitig fiel mit einem Mal, all die Last, die ich über die Jahre angesammelt hatte, von meinen Schultern. – Die Einsamkeit die ich zuvor in mir hatte, wurde durch Liebe ersetzt. Es war so befreiend, dass ich zusammenbrach, auf die Knie fiel und heulte wie ein Baby. (Lauter als die Band, die vorne ihr letztes Lied spielte und unter anderen Umständen wäre mir das furchtbar peinlich gewesen, aber das was ich in diesem Moment fühlte, war so wertvoll, so rein und so heilig, dass mir das in diesem Moment völlig egal war.) – Gott ist gnädig, Gott ist gut. Ich schämte mich zutiefst, dass ich christlich aufgewachsen bin und erst solche Erfahrungen machen musste, um die Wahrheit zu erkennen.
Bei meiner nächsten Therapiestunde erzählte ich dem Therapeuten aufgeregt von meiner Begegnung mit Gott. Er war total aus dem Häuschen und fragte in welcher Gemeinde ich denn war. – Ich nannte sie ihm, woraufhin er zu seinem Schrank stürmte und mir ein Gemeindemagazin in die Hand drückte. – Ausgerechnet von der Gemeinde, in der ich dieses Erlebnis hatte.
Er zeigte mir die letzte Seite und seinen Namen, der dort als Seelsorger aufgeführt war. Gott hatte mich also vorher schon zu meinem Heilungsprozess geführt.
Mein Leben änderte sich nicht von heute auf morgen. Aber nach und nach gingen die Panikattacken weg, ich räumte auf in meinem Leben, ich versöhnte mich mit meiner Familie und mit alten Freunden. Gott wirkte echte Wunder in meinem Leben (die tut er heute noch). Er malte mir wieder Farben in mein Herz, entfernte Süchte und ich lernte wieder zu lachen. Ich war seitdem nie wieder alleine. Gott gebrauchte mich, um die zu ermutigen, die damals mit mir dieses Leben geführt hatten und verloren waren. Erst dann verstand ich, weshalb ich erst durch dieses Tal gehen musste, bevor ich ihn wirklich erkennen konnte und der Schleier von meinen Augen fiel.
Das alles war für etwas gut. – ER war immer da, ist es heute und wird es immer sein.
